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„Wir haben alle viel gelernt“
Foto: Volker Beushausen

„Wir haben alle viel gelernt“

Lesedauer: ca. 5 Min. | Text: _Redaktion _RDN

Mathias Richter ist Staatssekretär im Ministerium für Schule und Bildung NRW. Im Interview spricht der Recklinghäuser über ein verrücktes Schuljahr und die Perspektiven danach.

Sie haben selbst eine Tochter in der 9. Klasse. Wie gut hat das Lernen zu Hause funktioniert?

Mathias Richter: Glücklicherweise gibt es bei uns zuhause Zeit und Raum, um einigermaßen in Ruhe lernen zu können, und es mangelte auch nicht an einem digitalen Endgerät. Das sind für das Distanzlernen gute Bedingungen – aber ich weiß natürlich auch, dass dies nicht bei jeder Familie so ist. Oft fehlen die Ruhe, die Konzentrationsmöglichkeiten, die technischen Voraussetzungen oder schlicht Platz, weil sich mehrere Familienmitglieder den Schreib- oder Esstisch teilen müssen. Deswegen haben wir in der Pandemie immer Wert darauf gelegt, dass die Schulen auch zur pädagogischen Betreuung und zum Lernen geöffnet blieben.

Wie bewertet man ein Schuljahr, das ja weitgehend außerhalb der Schule stattfand?

Nicht nur negativ. Viele haben die Zeit des Distanzlernens sehr gut genutzt. Manche haben überhaupt nichts verloren, sondern waren sogar aktiver und intensiver unterwegs.
Andere kamen weitaus weniger gut zurecht. Jede Schülerin, jeder Schüler hat da unterschiedliche Möglichkeiten und Talente, mit der Situation umzugehen. Wir werden daraus auch viele Lehren ziehen. Jetzt kommt die Zeit, in der wir das wieder gleichgerichtet auf die Schiene bringen müssen. Jetzt kommt die Zeit des Ankommens und Aufholens nach Corona.

Was hat Sie im Corona-Jahr am meisten überrascht?

Das Herausfordernde ist der riesengroße Resonanzboden in der Bevölkerung: 6.000 Schulen mit ca. 300.000 Beschäftigten, 2,5 Millionen Schülern, je 5 Millionen Eltern und Großeltern, die zu dem Thema aus eigenem Empfinden etwas sagen können. Und die Interessen sind eben oft auch nicht deckungsgleich. Das ist eine wahnsinnige Wucht, die man spürt, wenn es Entscheidungen gibt, die nicht jedem gleich gut gefallen. Damit souverän umzugehen gehört zu meinem Job.

Das Schulministerium ist viel kritisiert worden. Hätten Sie besser kommunizieren müssen?

Es gibt ja die schöne Geschichte, dass in NRW immer am Freitagnachmittag die Schulmails versandt wurden, damit sich am Montag die Welt in den Schulen verändert. Ich habe als Staatssekretär insgesamt über 80 Corona-Schulmails verschickt – davon nur drei an einem Freitagnachmittag, und das nur, weil es nicht früher möglich war, weil wir über Nacht umsetzen mussten, was in der Ministerpräsidentenkonferenz auf Bundesebene zuvor beraten wurde.

Haben Sie ein Gefühl dafür, wie der Corona-Alltag an den Schulen ausgesehen hat?

Das war eine wahnsinnig stressbeladene Zeit für alle: Es gehört nun mal nicht zum normalen Tagesablauf einer Lehrkraft, abends Päckchen mit Unterrichtsmaterial zusammenzustellen und am nächsten Tag mit dem Auto herumzufahren, um die Schülerinnen und Schüler zu Hause zu versorgen. Oder Hygienemaßnahmen zu beaufsichtigen und Testbescheinigungen auszustellen. Das sind schon Ausnahmesituationen, die unsere Lehrkräfte bis heute Tag für Tag meistern müssen. Dafür müssen wir allesamt dankbar sein.

Auch die Kommunen als Schulträger waren enorm gefordert. Reichen die Ressourcen?

Es war noch nie so viel Geld im System wie aktuell. Als Land haben wir eine Menge Geld für Digitalisierung und für Infektionsschutz zur Verfügung gestellt. 2 Milliarden für die Infrastruktur an Schulen, dazu die Sofortausstattungsprogramme für digitale Endgeräte mit knapp 300 Millionen. Inzwischen sind davon 98% der Mittel von den Kommunen abgerufen, manche Beschaffung läuft vor Ort noch. Das wirft allerdings auch Fragen auf, bei denen ich mir wünsche, dass über ein neues Zusammenspiel zwischen Land und Schulträgern diskutiert wird. Es geht nicht mehr nur um die klassische Aufgabenteilung nach dem Prinzip: Um das Schulgebäude kümmert sich die Kommune, um die Lehrkräfte das Land, sondern auch um neuartige Aufgaben, um digitale Infrastruktur, Endgeräte, Supportleistungen, ein breites Spektrum von neuen Professionen und Personal in den Schulen. Es geht um Schulverwaltungsassistenten, Schulsozialarbeiter, sozialpädagogische Fachkräfte und auch um Schulbegleitung. Die Schnittstellen sind nicht mehr klar zu identifizieren. Das muss neu geklärt werden.

Durch Corona ist die Digitalisierung in jeder Schule angekommen. Was muss passieren, damit dieser Schub verstetigt wird?

Digitalisierung hat bereits zuvor stattgefunden, aber Corona hat hier alles beschleunigt. Schnelles Internet ist die Voraussetzung, damit Digitalisierung in den Schulen funktioniert. 2017 hatten 13 % der Schulen Glasfaser, heute sind wir bei 65 %, und im nächsten Jahr erreichen wir 100 %. Das Zweite ist die digitale Infrastruktur in den Schulen, dabei hilft der Digitalpakt Schule. Wir brauchen aber auch digitale Lernmittel: Software, Apps, Dokumente für alles, was bislang haptisch greifbar war. Mehr tun müssen wir bei der Qualifizierung von Lehrkräften, verstärkt auch schon in der Lehrerausbildung und -fortbildung.

Die Qualität des Distanzunterrichts war von Schule zu Schule sehr verschieden. Wieviel Wildwuchs darf man in der Bildung zulassen?

In NRW gibt es dafür einen klaren Rechtsrahmen. Aber: Lehrkräfte sind in unterschiedlichem Tempo in der Digitalisierung unterwegs. Das ist nicht nur eine Frage von Jung und Alt. Wenn die technischen Voraussetzungen stimmen, ist es vor allem Aufgabe der Schulleitung, in der Schule Vorreiter und Taktgeber zu sein.

Corona hat die vorhandenen Gräben in der Schülerschaft noch vertieft. Wie sorgen Sie dafür, dass keine Bildungsverlierer zurückbleiben?

Wir haben nicht viel Zeit, um aufzuholen, was bei manchen verloren gegangen ist. Wir werden die Schulen mit zusätzlichem begleitenden Personal ausstatten, damit während der Unterrichtszeit durch Differenzierung Defizite aufgearbeitet werden. Hier können Studierende oder Lehrkräfte in der zweiten Ausbildungsphase unterstützen.

Wer ist besonders betroffen?

Für Kinder und Jugendliche haben wir das Programm „Extrazeit zum Lernen“ aufgelegt: In Kooperation mit Jugendherbergen in NRW bieten wir ab dem Sommer Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, Lernrückstände aufzuholen. Das ist eingebettet in ein Freizeitprogramm, bei dem neben Sport und Naturerlebnissen zum Beispiel zwei Stunden Mathe täglich auf dem Plan stehen können. Solche Angebote machen wir auch für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf bis hin zu einer 1:1-Betreuung.

Zum Ende eines verrückten Schuljahres: Welches Zeugnis stellen Sie der Schullandschaft aus?

Wir haben alle viel gelernt. Ich bin weit davon entfernt, Noten zu verteilen, aber: Die Schulleitungen und Lehr­kräfte haben einen Wahnsinnsaufwand betrieben und einen sehr guten Job gemacht.

Zur Person:

Mathias Richter ist Jahrgang 1967 und stammt aus Westfalen. Nach Studium und wissenschaftlicher Tätigkeit in Münster startete der Diplom-Volkswirt im Jahr 2000 seine Karriere als Bildungsreferent der FDP-Landtagsfraktion. Kommunalpolitisch war er zehn Jahre als Mitglied des Kreistages und des Recklinghäuser Rates aktiv. Von 2005 bis 2008 leitete Richter das Kabinettreferat bei Andreas Pinkwart in dessen Zeit als stellv. Ministerpräsident, danach war er Regierungsangestellter u.a. im Wissenschaftsministerium. Seit dem 30. Juni 2017 ist Richter Staatssekretär im Ministerium für Schule und Bildung des Landes NRW. Er wohnt in Recklinghausen, ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

 


Mathias Richter im Interview mit Chefredakteur Stefan Prott.
Mathias Richter im Interview mit Chefredakteur Stefan Prott.
Mathias Richter spricht über das vergangene Schuljahr und blickt in die Zukunft.
Mathias Richter spricht über das vergangene Schuljahr und blickt in die Zukunft.
„Die Schulleitungen und Lehr­kräfte haben einen Wahnsinnsaufwand betrieben und einen sehr guten Job gemacht
„Die Schulleitungen und Lehr­kräfte haben einen Wahnsinnsaufwand betrieben und einen sehr guten Job gemacht", so Mathias Richter, Staatssekretär im Ministerium für Schule und Bildung des Landes NRW.

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